Ulrike erinnert sich…

Ulrike wohnt in der Samtgemeinde Sickte und ist aktiv bei der BürgerAktionSichereASSE


1986

1986

Ende April1986, sommerliche Temperaturen, wir planen den Maifeiertag mit unserem fast einjährigen Sohn im Garten bei der Oma zu verbringen. Eine Radionachricht macht uns aufmerksam: In Teilen Schwedens, Finnlands und Norwegens ist eine ungewöhnlich hohe radioaktive Strahlung gemessen worden. Die Behörden weisen darauf hin, dass Menschen nicht gefährdet seien. Als Ursache wird ein Defekt an einem sowjetischen Atomreaktor vermutet.

 

Am 28.4. meldet die sowjetische Nachrichtenagentur Tass eine „Havarie“ in einem Atomkraftwerk. Während in Moskau die Maifeiertage wie immer mit der üblichen Militärparade auf dem Roten Platz geplant und durchgeführt werden, macht sich bei uns mehr und mehr Unruhe breit. Bröckchenweise dringen Informationen über Radio und Fernsehen durch, plötzlich ist klar, dass die Havarie tatsächlich ein GAU ist.

 

Spätestens als kommuniziert wird, dass Sowjetische Diplomaten um westliche Hilfe bei der Bewältigung der Katastrophe bitten, weil sie nicht wissen, wie man am besten brennenden Grafit löscht, ist uns klar, dass die unvorstellbare Katastrophe eingetreten ist, 1362 km von uns entfernt und doch ganz nah.

 

Das Radio läuft ständig, besorgt registriere ich die Meldungen, dass auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhöhte Werte von Radioaktivität gemessen werden, während dies immer noch von den russischen Behörden selbst für Kiew und Umgebung bestritten wird. Kommt die radioaktive Wolke und bringt sie den gefürchteten Regen mit? Nie war die Wettervorhersage und die Windrichtung so interessant für mich wie in diesen Tagen!

 

Trotz sommerlicher Temperaturen in der Wohnung bleiben anstatt mit dem Sohn im Garten zu spielen? Das stört ihn glücklicherweise noch nicht, da sind die Mütter der älteren Kinder im Kindergarten und Schulalter wesentlich mehr gefordert, Alternativen anzubieten.

 

Wir fühlen uns von der Politik schlecht bis gar nicht informiert und allein gelassen. Keiner weiß genau, was wie stark belastet ist, wie stark überhaupt etwas belastet sein darf, wie viel Radioaktivität noch kommen wird und was zu tun sei. Die unsichtbare Gefahr der Radioaktivität verunsichert uns. Wir kaufen Lebensmittel in Konserven, statt Frischmilch trinken wir H-Milch, frisches Gemüse wird vom Einkaufszettel gestrichen und ich greife auf die bisher verpönte Gläschenkost zurück.

Die Informationspolitik des damaligen Bundesinnenministers Zimmermann in den folgenden Wochen ist verheerend, unser oberster Strahlenschützer behauptet, eine „Gefährdung der deutschen Bevölkerung“ sei „ausgeschlossen“, allenfalls „Vorsorge“ angebracht. Die Behörden der Länder  ergreifen Sofortmaßnahmen, wobei die Einschätzungen von «unbedenklich» bis  Katastrophengrenze» reicht.

 

Dann Erleichterung – die Strahlung in der Luft geht zurück, leider nur in Teilen von Deutschland und der Schweiz – aber sie steigt im Boden! Vom Verzehr von Pilze und Wildfleisch wird gewarnt – wie gut, dass wir nicht in Süddeutschland wohnen, wo deutlich mehr radioaktive Strahlung gemessen wird. Irgendwann wird vom Sozial- und Umweltministerium gewarnt: „Der Salat muss im Moment vom Tisch. Auch Schnittlauch und Petersilie sollte man im Moment nicht anrühren. Waschen allein reicht nicht mehr.

 

Und immer noch sieht die Bundesregierung „keinen Anlass, ihre eigene Kernkraftpolitik zu überprüfen“, so der damalige Bundesinnenminister Herr Zimmermann. „Die Atommeiler in der Bundesrepublik hätten die „höchsten Sicherheitsstandards“ der Welt. Bauern müssen ihren Spinat unterpflügen, Kinder dürfen nicht mehr im Freien spielen, Fußballspiele werden abgesagt, bei Regen stellt man sich unter und in den Apotheken werden vermehrt Jodtabletten verlangt.

 

Aktuelle Werte über die radioaktive Belastung können wir über eine Telefonansage regelmäßig abhören um danach zu entscheiden, geht es nach draußen oder nicht? Und es herrscht tolles frühsommerliches Wetter, ideal für einen Aufenthalt im Freien……Um Cäsium 134und 137, Strontium , Jod 137, Plutonium, Halbwertszeit, Becquerel und Fallout kreisen in der nächsten Zeit meine Gedanken, was darf mein Kind essen, darf es draußen auf den Rasen, aus welcher Richtung weht der Wind….aus Osten? Da kann sich der radioaktive Staub wunderbar verteilen. Deutlich mehr radioaktive Strahlung wird in Süddeutschland gemessen, vor Freibadbesuchen wird gewarnt, Spielplätze zum Teil gesperrt und ich achte genau darauf, dass wir nicht in Regenschauer geraten

 

Plötzlich ist von Grenzwerten für Frischmilch und Blattgemüse die Rede, nachdem sich Anfang Mai die radioaktive Wolke in den ersten Maitagen mit Regen über Deutschland entladen hat.

Es gibt Verkaufsverbote bei der Überschreitung der Grenzwerte für Ost, Gemüse und Milchprodukte. Unverkäufliche Lebensmittel werden vernichtet, der Umstieg von der Winterfütterung der Milchkühe auf Sommerfütterung soll noch bis nach den ersten Regenfällen hinausgezögert werden. Dafür erhalten die Landwirte später Ausgleichszahlungen. Radioaktiv verseuchtes Molkepulver wird in Bundesbahnwaggons zwischengelagert.

 

Was machen wir mit Omas aktueller Ernte? Kompostieren? Umpflügen? Die Grünen bieten die Messung der radioaktiven Belastung des Erdreiches an –Geigerzähler im Garten – Glück gehabt, die Messergebnisse bewegen sich unterhalb der sog. Grenzwerte. So müssen wir nur die normalen Sicherheitsaspekte beachten:

  • Schuhe vor der Tür lassen, keine Wäsche draußen aufhängen, da sich aufgewirbelter radioaktiver Staub oder Regen in der Wäsche niederschlagen kann,
  • kein Blattgemüse essen, Vorsicht mit Milch, usw.

Unabhängige Wissenschaftler messen bundesweit die Strahlenbelastung und stellen für Braunschweig z.B. Folgendes fest:  18. Mai 1986: Am Ostufer des Ölper Sees werden auf einem Streifen von 300 Metern Kontaminationen von 100.000 – 700.000 Becquerel/m 2 gemessen. Zuvor werden auf der Rollschuhbahn im Prinzenpark Werte bis 100.000 Becquerel/m 2 gemessen. Ein Antrag auf Sperrung der Bahn wird von der Stadt und dem Verwaltungsgericht abgelehnt, die Eltern müssten ihre Kinder ja nicht Rollschuh fahren lassen.

 

Im Sommer gibt Hans Blix, damals Chef der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) folgendes Statement in der Zeitung ‚Le Monde‘ : „Angesichts der Wichtigkeit der Kernenergie kann die Welt einen Unfall vom Ausmaß Tschernobyl pro Jahr ertragen.“

 

Es besteht kein Grund zur Aufregung…wenn nicht jetzt, wann dann? Das war der Auslöser für mich endlich aktiv zu werden. Und wie nötig das immer noch ist, zeigt mir 2011 der Super-Gau von Fukushima, da erreichen uns die Nachrichten bei der Planung der Demo zum 25. Jahrestag von Tschernobyl und ich weiß, wenn die Nachrichten stimmen, bekommen wir richtig viele Menschen auf die Straße.

 

Und es hört immer noch nicht auf, Fessenheim Thiange, Doel und die zunehmende Bedrohung durch terroristische Angriffe…


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